Ursprünglich wollte ich heute nach Carrara fahren. Dort wird der berühmte Carrara-Marmor abgebaut, aus dem schon Michelangelo Skulpturen gefertigt haben soll. Außerdem gäbe es originalen Lardo di Colonnata zu probieren. Das ist Speck, der in Marmortrögen gemeinsam mit Gewürzen und Kräutern mindestens ein halbes Jahr reift und typisch für die Gegend ist. Doch es kommt immer anders als man denkt. Da es mir gestern nicht so gut ging, habe ich mein Pisa-Sightseeing-Programm nämlich auf heute verschoben. Carrara muss leider ausfallen.
Begrüßt von einer frischen Brise verlasse ich meine Unterkunft und spaziere entlang dem Ufer des Arnos, vorbei an der Piazza Mazzini und der Piazza Cairoli bis zur Piazza Garibaldi. Alle Plätze sind aus meiner Sicht recht schmucklos. Es gibt jeweils eine Statue zu bestaunen und das war es dann auch schon. Von der Piazza Garibaldi aus kann man an den Schaufenstern der Borgo Stretto flanieren. So richtig „Flair“ hat aber auch das nicht, so dass ich mich querfeldein vorbei an den römischen Bädern Bagni di Nerone zur Piazza del Duomo mit dem Wahrzeichen Pisas, dem Schiefen Turm, durchschlagen.
Der Schiefe Turm von Pisa (ital. Torre pendente di Pisa) war als Glockenturm für den Dom geplant und wurde bereits im 12. Jahrhundert erbaut bzw. es wurde damals begonnen, den Turm zu bauen. Wirklich fertig war man erst Ende des 14. Jahrhunderts. Mittlerweile gehört der Turm mit den anderen Gebäuden auf der Piazza del Duomo zum UNESCO Weltkulturerbe. Wenn das kein triftiger Grund ist, um ihn mal aus der Nähe zu betrachten. Zuerst fällt mir auf, dass er mit etwas mehr als 50 Metern Höhe doch recht klein ist. Irgendwie hatte ich ihn mir größer vorgestellt. Auch die Schieflage ist je nach Blickwinkel gar nicht so beeindruckend. Übrigens steht der Turm nur deswegen schief, weil der lehmige Untergrund nachgegeben hat. Das ist auch der Grund, warum der Turm so klein ist. Eigentlich war er wohl doppelt so hoch geplant worden, aber aus statischen Gründen verzichtete man darauf, diesen Plan umzusetzen. Heutzutage ist der Turm nach mehreren Sanierungsmaßnahmen für Besucher geöffnet. Der Aufstieg kostet 18 €. Ich habe darauf verzichtet. Zum einen hatte ich keine Lust aufs Anstehen und zum anderen lohnt der Blick bestimmt nicht wirklich. Stattdessen lege ich eine kurze Pause auf der Piazza del Duomo ein und betrachte das Baptisterium, den Camposanto und den Dom von außen. In der Gesamtheit wirkt das Ensemble schon sehr stimmig und beeindruckend. Anschließend spaziere ich weiter durch Pisa.
Es gibt ja Menschen, die behaupten, Pisa sei nicht nur der Schiefe Turm und das Drumherum. Nein, man könnte noch viel mehr entdecken. Ich sehe das nicht so. Pisa ist insgesamt doch recht langweilig. Ein Zwischenstopp oder ein Halbtagesausflug sind völlig ausreichend. So leihe ich mir am frühen Nachmittag ein Fahrrad für zwei Tage aus aus. Der Plan: Ans Meer zum Baden. Im Nachhinein eine doofe Idee. Ich hätte vielleicht lieber mit dem Bus nach Marina di Pisa oder dem Zug nach Viareggio fahren sollen. Dabei ist das Meer nur rund zehn Kilometer von Pisa entfernt. Allerdings schaffe ich es, auf direkten Weg zum Parkeingang des Parco di San Rossore zu radeln. Das Naturschutzgebiet erstreckt sich vor den Toren Pisas fast die gesamte Küste entlang. Das Problem dabei ist, dass man mich nicht in den Park lassen wollte, als ich sagte, dass ich zum Meer wolle. Stattdessen wurde ich darauf verwiesen, dass ich bei den Ampeln die Abzweigung Richtung Meer nehmen müsste. Unabhängig davon, dass mir seit der Innenstadt Pisas keine Ampeln mehr begegnet waren, war meine Laune und meine Motivation – jetzt noch einmal mindestens 20 Kilometer in sengender Hitze zu fahren – im Keller. Also keine Abkühlung heute, kein Wellenrauschen. Ein paar kleine Tränen kullern bei der Rückfahrt aus meinen Augen. Die kann ich mir nicht verkneifen. Das einzige, das mich ein bisschen aufmuntert, ist ein leckeres Fruchteis von Ghibli (Piazza Cairoli, direkt am Arno).
Als ich am Abend in meiner Unterkunft ankomme, bin ich noch immer allein in der Wohnung. Dabei hatte die Besitzerin gestern gemeint, dass heute ein Pärchen einchecken würde. In der Küche ist allerdings auch das Frühstück für nur eine Person gedeckt. Ich nehme also an, dass vor dem morgigen Tag niemand mehr kommt und breite mich dem entsprechend für eine Nacht etwas mehr aus. Soll heißen: Ich „wage“ es, meine Kulturtasche im Bad liegen zu lassen. Ein großer Fehler! Am späten Abend höre ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Ich liege bereits im Bett, möchte schlafen, alles ist dunkel. Dann: Geklapper und Geplapper in der Küche. Ich erkenne die Stimme der Besitzerin (und ihrer Schwester), wundere mich, bin aber zu müde, um so richtig über die Situation nachzudenken. Da wird plötzlich meine Zimmertür aufgeschlossen, das Licht angemacht und sich weiter lauthals unterhalten. Träume ich? Wie kann man denn so dreist sein, ohne (!) Anzuklopfen in das Zimmer eines Gastes zu kommen? Vor allem um diese Uhrzeit? Und dann noch das Licht anzuschalten (die Lampe ist quasi direkt über meinem Kopf, da ich ja im Hocbett liege) und miteinander zu reden? Wenn ich nicht so müde gewesen wäre und mich auf Englisch besser hätte ausdrücken können, wäre ich ausgerastet. So lag ich ruhig da und hoffte, dass die beiden schnell wieder verschwinden. Taten sie auch. Und siehe da: Sie hatten meine Kulturtasche in das Zimmer gelegt, denn die hatte im Bad nichts zu suchen. Wie sich herausstellen sollte, checkten gerade (vermutlich) zwei Männer ein. Man glaube aber bloß nicht, dass damit Ruhe eingekehrt wäre. Nein, das Stimmenwirrwarr zog sich noch über eine ganze Stunde hin und die beiden Herren im Zimmer neben mir philosophierten noch mitten in der Nacht über Gott und die Welt. Dabei wollte ich nur eins: Schlafen! Damit endet dieser Tag glatt noch beschissener als der gestrige. Irgendwie ist hier der Wurm drin.
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